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Experteninterview: Lebensqualität trotz Inkontinenz - Prof. Dr. med. Andreas Wiedemann

Bildquelle: unsplash

Experteninterview: Lebensqualität trotz Inkontinenz

Prof. Dr. med. Andreas Wiedemann

Über den Autor:

Der Universitätsprofessor Dr. med. Andreas Wiedemann unterrichtet im Department für Humanmedizin am Lehrstuhl für Geriatrie in Witten/Herdecke. Wiedemann hat darüber hinaus erfolgreiche Artikel im Bereich geriatrische Urologie veröffentlicht und ist Leiter der Klinik für Urologie am Evangelischen Krankenhaus in Witten. Zudem ist er  1. Vorsitzender der Deutschen Kontinenz Gesellschaft und engagiert sich aktiv für die Deutsche Kontinenz Gesellschaft.

Einleitung:

Um das Wohlbefinden bzw. die Lebensqualität bei Inkontinenz zu verbessern, ist in erster Linie eine frühzeitige Therapie wichtig. Wer sich bereits bei den ersten Beschwerden professionell beraten und rechtzeitig behandeln lässt, hat gute Chancen, auf spezielle Hilfsmittel wie Vorlagen oder Windeln verzichten zu können – besonders dann, wenn schon in früheren Jahren ein aktiver, gesunder Lifestyle gelebt wurde.

1. Herr Prof. Dr. Wiedemann, wie verbreitet ist Inkontinenz in der allgemeinen Bevölkerung und welche Gruppen sind davon am stärksten betroffen?

Prof. Dr. Wiedemann: Die Häufigkeit von Inkontinenz hängt stark von der Altersgruppe, dem Geschlecht und dem Gesundheitszustand der betrachteten Patientengruppe ab. Schätzungen zufolge haben etwa 10 bis 15 % aller Menschen in Europa ein Kontinenzproblem, wobei die Zahlen je nach Altersgruppe stark variieren. In der Altersgruppe der Älteren sind beispielsweise bereits rund 40 % der Menschen inkontinent. Zudem gibt es Unterschiede zwischen den Geschlechtern: Frauen leiden tendenziell in jüngeren Jahren häufiger unter Harn- und Stuhlinkontinenz, während sich die Häufigkeit bei beiden Geschlechtern im Alter von 70 bis 80 Jahren angleicht. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass bei Frauen Erkrankungen des Beckenbodens oft durch Geburten früher beginnen, während Männer später durch Prostatabeschwerden und die damit verbundenen Probleme mit Harninkontinenz „aufholen".

Interessanterweise zeigen Untersuchungen, dass selbst junge Leistungssportlerinnen, bei denen man nicht an Kontinenzprobleme denken würde, betroffen sein können. Tatsächlich leidet etwa ein Viertel der Leistungssportlerinnen in diesem Alter unter Harninkontinenz, was auf die intensive Beanspruchung des Beckenbodens zurückzuführen sein könnte.

2. Welche Ursachen für Inkontinenz haben Sie in Ihrer klinischen Praxis am häufigsten beobachtet?

Prof. Dr. Wiedemann: Die Art der Inkontinenz hängt stark davon ab, um welche Form es sich handelt. Hier gibt es im Wesentlichen zwei Hauptformen, wenn man seltenere Varianten einmal ausklammert: Zum einen gibt es die sogenannte Belastungsinkontinenz, die durch Urinverlust beim Husten, Lachen, Niesen, Heben, Trampolinspringen und in extremen Fällen sogar schon beim Umdrehen im Bett oder im Liegen ausgelöst wird. Dies ist ein Beckenbodenproblem und betrifft tendenziell häufiger Frauen, insbesondere solche, die bereits geboren haben.

Die zweite Hauptform ist die überaktive Blase – ein Begriff, der seit etwa 20 Jahren verwendet wird. Früher sprach man von einer Reizblase. Bei dieser Form kommt es zu Urinverlust auf dem Weg zur Toilette, begleitet von starkem Harndrang sowie häufigem Wasserlassen tagsüber und nachts. Interessanterweise wird auch dann von einer überaktiven Blase gesprochen, wenn es noch nicht zu einem tatsächlichen Inkontinenzvorfall kommt – also, wenn die betroffene Person es gerade noch rechtzeitig zur Toilette schafft, formal jedoch keine Inkontinenz vorliegt. Dennoch wird sie durch das ständige Bedürfnis, eine Toilette zu finden, stark beeinträchtigt.

Diese beiden Formen machen etwa 97 % aller Inkontinenzfälle aus, wobei es auch Mischformen gibt, bei denen Betroffene Symptome beider Typen aufweisen. Die Verteilung der Formen variiert zwischen den Geschlechtern: Frauen leiden häufiger unter Belastungsinkontinenz oder Mischinkontinenz, während Männer eher von einer überaktiven Blase betroffen sind. Belastungsinkontinenz tritt bei Männern in der Regel nur auf, wenn der Schließmuskel durch einen operativen Eingriff –wie etwa eine Rektum- oder Prostataoperation –, beschädigt wurde.

3. Wie schätzen Sie die Auswirkungen ein, die Inkontinenz auf die Lebensqualität der Betroffenen haben?

Prof. Dr. Wiedemann: Die Lebensqualität von Menschen mit Inkontinenz ist erheblich eingeschränkt, wobei wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass dies bei einer überaktiven Blase oft stärker der Fall ist als bei einer Belastungsinkontinenz. Ein Grund dafür könnte sein, dass Belastungsinkontinenz in vorhersehbaren Situationen auftritt, wie beispielsweise beim Husten oder Lachen. Frauen, die an Belastungsinkontinenz leiden, können sich in solchen Situationen besser vorbereiten und schützen.

Bei einer überaktiven Blase hingegen übernimmt die Blase quasi die Kontrolle und entwickelt ein Eigenleben. Die Betroffenen müssen ihren Alltag um die unvorhersehbaren Bedürfnisse der Blase herum planen – beispielsweise, indem sie nur Orte aufsuchen, an denen sie sicher eine Toilette finden können. Diese ständige Unsicherheit führt zu einem Gefühl des Ausgeliefertseins, was die Lebensqualität zusätzlich beeinträchtigt.

Ein weiterer Faktor ist, dass Frauen durch die Menstruation oft an den Umgang mit Hilfsmitteln gewöhnt sind und diese als weniger problematisch empfinden. Frauen, die häufiger unter Belastungsinkontinenz leiden, können sich diskret schützen. Sie kommen damit unter Umständen besser zurecht als jemand mit einer überaktiven Blase, bei dem es zu unkontrollierten, großen Urinverlusten kommen kann. Männer hingegen, die weniger Erfahrung im Umgang mit Hygienematerialien haben, empfinden Inkontinenz oft als besonders belastend.

Die Ursachen für Harninkontinenz sind vielfältig und gehen über Geburten oder Prostatabeschwerden hinaus. Neurologische Erkrankungen wie Multiple Sklerose, Parkinson oder Schlaganfall können die Nervenversorgung von Blase und Schließmuskeln beeinträchtigen und zu Kontinenzproblemen führen. Auch Diabetes mellitus kann nach längerer Zeit eine überaktive Blase verursachen, da die Blase nicht mehr ausreichend vom Gehirn kontrolliert wird.

Zusätzlich spielen Medikamenteninteraktionen eine Rolle: Viele Medikamente, wie Schmerzmittel oder Psychopharmaka, können die Blase und den Schließmuskel beeinflussen und Inkontinenz auslösen. Eine App wie www.harntrakt.de bietet Ärzten und Apothekern eine Datenbank zur Risikobewertung solcher Medikamente. Zudem kann eine vergrößerte Prostata bei Männern verschiedene Beschwerden verursachen, die von einem schwachen Harnstrahl bis hin zu einer überaktiven Blase oder sogar zu einer Überlaufinkontinenz reichen.

Auch die Wechseljahre der Frau tragen zu einer erhöhten Inkontinenzrate bei. Der Rückgang der Östrogenproduktion führt zu trockeneren und spröderen Schleimhäuten in Harnröhre und Blase, was die Kontinenz negativ beeinflusst. Zudem verändert sich die Bakterienflora, was das Risiko für Blaseninfektionen und damit verbundene Reizungen und überaktive Blasen erhöht. Diese Faktoren zusammen erklären, warum Frauen in den Wechseljahren ein deutlich höheres Risiko für Inkontinenz haben.

4. Auf welche Merkmale sollten Betroffene oder Pflegende bei der Auswahl der Inkontinenzhilfsmittel achten?

Prof. Dr. Wiedemann: Ich würde vor einer Versorgung mit Hilfsmitteln, die ja immer möglich ist, zunächst überlegen, ob alternativ eine Therapie infrage kommt. Therapie bedeutet in diesem Zusammenhang, dass ich etwas mache, um möglichst keine Hilfsmittel zu brauchen. Das sollte meiner Meinung nach das eigentliche Ziel sein. Ich formuliere es mal etwas provokanter: Die Hilfsmittelversorgung ist eine Kapitulation vor dem Problem. Ich kann das natürlich begleitend machen oder wenn die Betroffenen eine Therapie ablehnen oder keine Therapie möglich ist. Aber eigentlich ist eine Versorgung mit Vorlagen, Kondom-Urinalen und allen weiteren Hilfsmitteln nur eine Notlösung.

Ich weise darauf hin, dass man eigentlich keine Angst vor einer Operation haben sollte. Vielleicht ist es sogar möglich, bereits durch eine Veränderung des Verhaltens eine Besserung herbeizuführen – beispielsweise indem ich die Trinkmenge reguliere. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Viele Betroffene mit Inkontinenz denken, dass eine intensiv reduzierte Trinkmenge das Problem geringer macht. Das ist allerdings nicht ganz richtig, denn dadurch wird der Urin sehr konzentriert. Wir sagen wissenschaftlich, dass die Osmolarität steigt und die im Urin vorhandenen Nahrungsbestandteile wie beispielsweise Gewürze stärker konzentriert vorliegen. Das kann die Blase reizen, sodass dann der gegenteilige Effekt entsteht.

Viele Menschen trinken sehr viel, weil sie glauben, das sei gesund. Häufig werden auch harntreibende Getränke wie Coca-Cola, Energy-Drinks oder Kaffee konsumiert. Wenn man sein Trinkverhalten allerdings wieder in das Normalmaß zurückführt, kann man positive Effekte erzielen.

Übrigens sind wir aktuell am Lehrstuhl für Geriatrie der Uni Witten Herdecke damit beschäftigt, dafür eine App zu entwickeln. Diese ist schon in der Zulassungsstudie und wird hoffentlich um den Jahreswechsel als verschreibbare App zugelassen. Dann können Patientinnen mit ihrer App auf dem Smartphone üben und bekommen einen Überblick über ihre Trinkgewohnheiten. Sie erhalten wertvolle Tipps, Erklärvideos und eine individuelle Einschätzung, ob die Problematik vielleicht am Kaffeekonsum liegen könnte oder ob es sinnvoll wäre, weniger oder mehr zu trinken. Zusätzlich enthält die App physiotherapeutische Beckenboden-Übungen. Ich kann das intensivieren, indem ich Betroffene zu Physiotherapeutinnen überweise, die gezielte Übungen durchführen und im Gegensatz zu vielen Internet-Videos oder allgemeinen Tipps in Fitnessstudios korrekte, persönliche Empfehlungen aussprechen. Dort geht es darum, den Schließmuskel richtig und gezielt anzusteuern. Physiotherapeutinnen können das hervorragend erklären.  Bei Einverständnis der Betroffenen dürfen Physiotherapeutinnen übrigens Frauen untersuchen und vaginal tasten, um eine Rückmeldung zu bekommen, ob die Frau richtig übt. Das ist in meinen Augen ein sehr, sehr wichtiger Aspekt.

Darüber hinaus lassen sich viele Inkontinenzformen wie eine überaktive Blase auch medikamentös behandeln. Ich persönlich gehe davon aus, dass es keine überaktive Blase gibt, die nicht medikamentös erfolgreich behandelt werden kann. Neben Tabletten gibt es in einzelnen Fällen die Möglichkeit, Botox in die Blase zu injizieren. Zusätzlich kann mit Reizströmen gearbeitet werden. All das sind Dinge, die nicht aufwändig sind. Ich muss als Betroffener nur den Mut finden, mich zu äußern und zum richtigen Arzt zu gehen. Auch das ist teilweise ein Problem, da einige Ärzte die Situation herunterspielen und die Symptome als altersgemäß einstufen. Das ist falsch, denn niemand muss im Alter inkontinent sein.

Auf der Homepage der deutschen Kontinenz-Gesellschaft gibt es eine Liste von sogenannten Beratungsstellen. Das sind ein paar hundert, bundesweit verteilte Ärzte, die auf Inkontinenz spezialisiert sind. Zusätzlich gibt es 50 Kontinenz- und Beckenbodenzentren, die zertifiziert sind. Dort gibt es Ansprechpartner für spezielle, komplexere Fälle, in denen möglicherweise auch operative Maßnahmen notwendig sind. Aber eine OP ist heutzutage kein Drama mehr. Ich kann beispielsweise die Belastungsinkontinenz in einem minütigen Eingriff erheblich reduzieren. Durch das Einsetzen eines unterstützenden Plastikbandes in die Scheidenschleimhaut unter der Harnröhre lässt sich eine Kontinenzrate von 80 bis 90 % erzielen.

Bei der Versorgung mit Hilfsmitteln ist es ebenfalls wichtig, an einen richtigen Ansprechpartner zu gelangen. Ich warne davor, sich selbst im Drogeriemarkt umzusehen. Der Drogeriemarkt ist voll von Inkontinenzhilfsmitteln: Ein Riesengeschäft, weil sich Patienten nicht trauen, zum Arzt zu gehen, obwohl dieser die Hilfsmittel verschreiben könnte. Sie bezahlen lieber selbst. Aber dann haben sie auch die Chance verpasst, dass ein Fachmann sich um die richtige Anpassung der Hilfsmittel kümmert.

Ich erlebe es, dass Menschen eine „Riesenschutzhose” – eine Einmalunterhose, die im Schritt verstärkt ist – aus Bequemlichkeit tragen, da diese bis zu 500 ml Flüssigkeit aufnehmen kann. Es scheint bequem zu sein, die Unterhose nur einmal am Tag wechseln zu müssen. Aber das ist natürlich für die Haut nicht gut, da sie den ganzen Tag in einem feuchten Milieu ist. Und viele Menschen haben nur einen Urinverlust von 20 ml oder sogar nur von 10 ml. Da reicht ein kleineres Produkt. Manchmal ist auch die Vorlage gar nicht passend.

Ich weise darauf hin, dass es auch Kondomurinale gibt, die wie ein Verhütungspräservativ auf dem Penis getragen werden und der Urin in einen Beutel abgeleitet wird, ohne dass die Haut feucht wird. Allerdings gibt es große Qualitätsunterschiede. Diesbezüglich haben wir ein politisches Problem: Krankenkassen zahlen eine Pauschale pro Monat, die so zwischen 10 und 15 Euro im Monat beträgt. Dafür bekommen Betroffene natürlich so gut wie nichts – allenfalls sehr billige Ware mit Qualitätseinbußen. Manche Krankenkassen gehen sogar dazu über, dass sie gar keine Auswahl erlauben. Stellt der Arzt ein Rezept aus, dann gibt es im Umkehrschluss ein Paket von einem Großhändler und da sind dann die Vorlagen in schlechter Qualität enthalten – ohne eine so wichtige Beratung.

Bezüglich der Beratung ist in Zukunft noch deutlich Luft nach oben, denn bisher gibt es für die Beratung in der Apotheke oder im Sanitätshaus keine Finanzierung. Für eine Monatsversorgung von nur 15 Euro kann dann natürlich nicht auch noch die Beratung bezahlt werden. Das ist so gut wie unmöglich. Und leider erlebe ich es, dass sich viele Apotheken und Sanitätshäuser ganz vom Markt verabschieden. Es gibt zwar Hotlines von großen überregionalen Versorgern, aber dann telefonieren Betroffene mit jemandem, den sie nicht kennen und nicht sehen, und sollen dieser Person dann ihre intimsten Geheimnisse offenbaren.

Wir haben mit einer Arbeitsgruppe eine Leitlinie für die Hilfsmittelberatung publiziert. Diese Hilfsmittel-Beratungsleitlinie hat Bedingungen definiert, wie eine Beratung optimal stattfinden soll – in einem separaten Raum, nicht im Verkaufsraum einer Apotheke, wo drei andere Kunden noch zuhören. Wir haben darüber hinaus definiert, wie eine Bemusterung ablaufen sollte, sodass der Patient zwei, drei ähnliche Vorlagen oder Hosen zu Hause testen und schauen kann, womit er gut zurechtkommt und was für ihn das Beste ist. Zusätzlich haben wir definiert, dass möglichst Informationen vom Arzt zur Apotheke oder zum Sanitätshaus über das Ausmaß der Inkontinenz fließen sollen und auch wieder zurück, was der Versorger mit dem Patienten vereinbart hat. Denn wie soll ein Apotheker oder ein Sanitätshausmitarbeiter einem Patienten das richtige Produkt verkaufen, wenn er gar nicht weiß, ob dieser eine ausgeprägte oder nur eine leichte Inkontinenz hat, sie tagsüber oder nur nachts und in welcher Form auftritt – zum Beispiel ständig tröpfelnd? All das sind Faktoren, die eigentlich der Versorger wissen muss. Andersrum sollte dieser dem Arzt nach der Testphase wiederum mitteilen, welches das beste Produkt bzw. die beste Produktgruppe für die Verschreibung ist. Aber wie gesagt, das ist bisher nur eine Leitlinie, die in Zukunft hoffentlich zum Qualitätsstandard wird. Ich bin sehr gespannt, ob sich jemand daran halten wird.

5. Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede, auf die beim Erwerb von Windeln, Pants oder Einlagen geachtet werden sollte?

Prof. Dr. Wiedemann: Ja, natürlich gibt es individuelle Unterschiede. Vorlagen mit guter Qualität sollten möglichst einen Gallertkern bzw. einen Superabsorber haben und darüber ein Vlies, das die Feuchtigkeit von der Haut weghält. Solche Superabsorber können bis zu einem Liter Flüssigkeit einschließen. Das ist heute Standard. Vorlagen oder Materialien aus Zellstoff sind aus meiner Sicht inakzeptabel. Zusätzlich sollte man noch darauf achten, dass die Vorlagen anatomisch geformt sind, gut sitzen und einen Klebestreifen haben. Frauen kennen das aus der Menstruationshygiene und da gibt es auch individuelle Vorlieben. Manche Patienten empfinden eine knisternde Vorlage als unangenehm, da jemand das Rascheln bemerken könnte. Einige Modelle haben wiederum abgerundete Kanten, die im Schritt nicht am Bein scheuern – im Gegensatz zu gestanzten Vorlagen mit herausschauender Kunststoff-Falte.

Man sollte sich die Modelle mal genau angucken und in der Hand halten. Nur dazu muss man sich trauen, nicht wahr? Und wenn es ein qualitativ höherwertiges Produkt ist, muss man gegebenenfalls eine Zuzahlung leisten. Das ist ja immer möglich, indem ich den Betrag meiner Krankenkasse kassiere, eine Zuzahlung leiste und dann mein Wunschprodukt bekomme. Immer noch besser, als wenn sich hinterher Sekundärprobleme mit Pilzinfektionen, Scheuerstellen etc. entwickeln. Und wenn ich mich sicher und qualitativ gut schütze, dann kann ich mich auch wieder trauen, etwas zu unternehmen. Wir erleben es ja, dass Patienten sich einschließen, gar nicht mehr hinausgehen oder keine sozialen Kontakte mehr wahrnehmen, weil sie einfach ein Malheur befürchten. Sie fahren nicht mal mehr in den Urlaub aus dieser Angst heraus. Aber wenn ich therapiert bin, habe ich wieder mehr Chancen oder aber wenn ich gut geschützt und gut versorgt mit Hilfsmitteln bin, kann ich wieder loslaufen.

Bezüglich Ihrer Frage zu den Geschlechtsunterschieden: Frauen können zum Beispiel auch Inkontinenz-Tampons nutzen. Sie funktionieren nicht wie ein Hygiene-Tampon, da sie nicht zum Aufsaugen gedacht sind. Inkontinenz-Tampons sind aus einem etwas weicheren komprimierbaren Kunststoffschaum, werden eingeführt, haben einen Rückholfaden und komprimieren die Harnröhre ein bisschen. Das ist für Frauen gedacht, die genau wissen, ob Sie beispielsweise beim Sport oder beim Joggen einen besonderen Schutz für eine Stunde benötigen – also nicht dauerhaft.

 Wenn wiederum eine Senkung ein Problem darstellt – also wenn die Scheide herunter gesunken ist, die Blase mitnimmt und dadurch ein Inkontinenzproblem besteht –, dann gibt es Silikonwürfel und Pessare, die auch in die Scheide eingeführt und den ganzen Tag dort belassen werden können. Nachts werden diese wieder herausgenommen. Diese Hilfsmittel stellen die normale Anatomie wieder her und können damit auch Inkontinenz-Symptome verbessern. Das funktioniert natürlich nur bei Frauen.

Der Mann hat den Vorteil, dass er durch das Vorhandensein des Penis ein Kondomurinal benutzen kann. Es gibt im Fachhandel zudem eine Art Einmaltoilette für den Mann: Ein kleiner Schlauch mit einem Superabsorber, da kann er diskret Wasser lassen und das ganze entsorgen. Das ist zum Beispiel für Männer gedacht, die Segelflieger sind und zwischendurch nicht einfach austreten können. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten und man sollte einfach mal im Internet recherchieren oder sich im Sanitätshaus erkundigen.

6. Wie können Hautirritationen bei der regelmäßigen Verwendung von Inkontinenzprodukten am besten vorgebeugt werden?

Prof. Dr. Wiedemann: Am besten wäre es natürlich, wenn erst gar keine Inkontinenzprodukte aufgrund einer erfolgreichen Therapie nötig wären. Ansonsten sollten die Produkte so konstruiert sein, dass sie die Feuchtigkeit möglichst von der Haut weglenken, denn die Haut quillt im feuchten Milieu auf, es kann zu einer Fehlbesiedlung kommen und Keime tun dann ihr Übriges – ganz extrem übrigens bei der Stuhlinkontinenz. Man muss wissen, dass sich im Stuhl ja auch noch Verdauungsfermente befinden und diesen Fermenten ist es ja egal, ob sie das Schnitzel im Darm oder aber die Schleimhaut im Analbereich verdauen sollen. Entsprechend wird die Haut zusätzlich angegriffen. Daher müssen diese Ausscheidungen von der Haut weggeleitet werden. Bei der Stuhlinkontinenz gibt es mehrere Möglichkeiten. Man kann eine Therapieform irrigieren, also den Darm durch einen Einlauf ein- oder zweimal am Tag oder alle zwei Tage entleeren. Dann hat man eine gewisse Zeit Ruhe, bis dann der nächste Stuhlgang wieder anliegt.

Die andere Möglichkeit ist das Verwenden von Anal-Tampons, die in den Anus eingeführt werden und den After abdichten, also den Stuhlgang von der Haut weghalten. Bei der klassischen Inkontinenz gilt dasselbe. Vorlagen sind heutzutage so konzipiert, dass sie die Haut trocken halten. Mein Tipp wäre, lieber ein kleineres Produkt zu wählen, das dann häufiger gewechselt wird. Außerdem sollten Betroffene bedenken, dass die Vorlage grundsätzlich dick ist und vermutlich irgendwo eine Plastikfolie besitzt, sodass auch die normale Transpiration nicht stattfinden kann. Das Resultat: Die Haut schwitzt und diese Feuchtigkeit wird nicht durch die Unterwäsche aufgenommen, sondern bleibt auf der Haut, die dadurch aufquillt und anfällig für Infektionen wird, zum Beispiel für Candida-Infektionen. Dabei handelt es sich um das, was wir beim Säugling gerne Windeldermatitis nennen: Es siedeln sich Candidakeime in diesem feuchten Milieu an und es bilden sich Pöckchen mit einhergehender Rötung. Wenn das nicht mit den richtigen Medikamenten behandelt wird, geht die Haut zurück. Dann blickt man auf das rohe Fleisch, was Schmerzen auslöst und wieder zur Sekretion und zu Geruch führt – ein Teufelskreis ohne Ende.

7. In welchen Bereichen der Inkontinenzbehandlung sehen Sie in den nächsten Jahren die größten Fortschritte?

Prof. Dr. Wiedemann: Also die größten Fortschritte werden sein, dass wir bei der Belastungsinkontinenz die Materialien, die wir bei Operationen verwenden, verbessern müssen. Diese Materialien können riskant werden, wenn sie nicht richtig angewendet werden. Sie können in die Scheide und in die Blase gelangen. Es gibt Länder, in denen diese Materialien zum Beispiel bei Senkungsoperationen der Frau bereits verboten sind. Und wenn wir dort keine Neuentwicklungen bekommen, könnte es sein, dass wir diese Materialien auch hier in Europa nicht mehr bei Inkontinenz-Operationen einsetzen dürfen. Das wäre eine Katastrophe, weil wir dann keine Alternative mehr haben.

Weitere Entwicklungspotenziale sehe ich bei Medikamenten für die überaktive Blase. Da haben wir leider ein großes Problem: Unsere Gesundheitspolitik in Deutschland hat es so verfügt, dass alle Medikamente für die Harninkontinenz einem Festbetrag unterliegen und zusätzlich durch Rabattverträge reguliert sind. Als diese Regelung noch nicht aktiv war, kostete ein gutes Inkontinenz-Medikament rund 2 Euro am Tag. Das ist nicht viel, aber die Gesundheitspolitik hat verfügt, dass der Festbetrag dieser Medikamente bei nur 0,70 Euro liegt. Und Krankenkassen dürfen diesen Betrag oder diese Medikamente ausschreiben. Das heißt, ein Pharmahersteller darf sich bewerben und ein Angebot machen. Heutzutage ist es so, dass dieser die Ausschreibung nur gewinnen kann, wenn er unter 10 % des Festbetrages bietet. Das können nur chinesische oder indische Generikahersteller, die diese Medikamente zum Preis von unter 0,07 Euro am Tag auf den Markt bringen!

Das Ergebnis: Die deutschen Pharmahersteller verdienen kein Geld mehr und mit der Zeit werden alle mittelständischen Unternehmen pleitegehen. Der andere Effekt ist, dass es keine Forschung mehr gibt. Denn wenn ich jetzt ein neues Medikament auf den Markt bringen würde, käme das unter die Festbetragsregelung und ich könnte kein Geld mehr damit verdienen. Wir Mediziner würden gerne solche Medikamente verschreiben, auch wenn sie 2, 3 oder 4 Euro am Tag kosten. Wir reden bei anderen Krankheiten über Tausende von Euro im Jahr, da sind 2 Euro am Tag im Verhältnis wirklich nicht viel. Dasselbe gilt übrigens für Prostata-Medikamente; das ist ein politisch gewolltes Drama.

8. Haben Sie als Abschluss noch ein Fazit, was Sie vielleicht den Lesern noch mit auf den Weg geben wollen?

Prof. Dr. Wiedemann: Erstens würde ich empfehlen, mit einem Kontinenzproblem frühzeitig raus aus der Scham zu gehen und sich jemandem anzuvertrauen. Im Falle einer Abweisung sollte sich der Betreffende dann eben einen neuen Arzt suchen, der sich um das Problem kümmert. Wenn man hingegen 10 Jahre wartet, bis das erste Mal das Sofakissen bei der Freundin komplett nass ist, dann ist es oftmals zu spät, um erfolgreich zu therapieren. Und man muss auch bedenken, dass viele Betroffene in jungen Jahren aktiver sind und eigenständig handeln können. Wenn ich erst mal 80 oder 90 Jahre bin, wird es mit der Therapie – mit einer Beckenboden-Physiotherapie oder ähnlichem – schwieriger: Also unbedingt früh beginnen.

Und grundsätzlich gilt, möglichst von Anfang an, von jungen Jahren an, sportlich zu bleiben, Normalgewicht zu halten und gesund zu bleiben. Es also gar nicht erst dazu kommen lassen, dass Diabetes oder Ähnliches – Krankheiten, die heutzutage zum Großteil durch richtige Ernährung und Abbau von Übergewicht vermeidbar wären – entstehen. Dann besteht auch eine gute Chance, bis ans Lebensende kontinent zu bleiben.

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